David Gerke zum Wolf in der Schweiz
Seit 2005 ist David Gerke Präsident der 1997 gegründeten «Gruppe Wolf Schweiz». Sie zählt rund 1000 Mitglieder und setzt sich für die Rückkehr des Wolfes in der Schweiz ein. Der Jagdwirt lebt im solothurnischen Biberist und ist Projektleiter bei ProNatura und angehender Landwirt.

Sind sie als Präsident der Gruppe Wolf Schweiz zufrieden mit der aktuellen Entwicklung der Wolfspopulation in der Schweiz?
David Gerke: Ja, wir begrüssen es, dass die Wolfspopulation in der Schweiz natürlicherweise steigt.
Wie viele Wölfe gibt es aktuell in der Schweiz?
Gerke: Zwischen 80 und 100.
Warum wird der Wolf nicht kontrolliert angesiedelt?
Gerke: Das ist nicht nötig, weil der Wolf von alleine zurückkehrt. Diese Rückkehr zahlenmässig zu beschränken ist relativ schwierig solange das Nahrungsangebot so gross ist.
Aktuell sind durch die Abwanderung von Jungwölfen viele Tiere unterwegs. Unter anderem jagen die Wölfe auch tagsüber in der unmittelbaren Nähe von Menschen, entspricht das noch der «Natur» dieser nachtaktiven Tiere?
Gerke: Der Wolf ist nicht von Natur aus nachtaktiv, sondern nur da, wo er dem Menschen ausweicht, weil er bedrängt oder bejagt wird. Ob es erwünscht ist oder nicht, ist eine rein menschliche Interpretation aber unnatürlich ist es nicht.
Es werden auch Wölfe in Dörfern beobachtet. Bilder in den sozialen Medien machen die Runde auf denen Autofahrer auf eine Distanz von wenigen Metern den Wolf am Strassenrand fotografiert haben, während dieser interessiert ins Auto schaute. Was sagen sie dazu?
Gerke: Wildtiere bringen Autos oft nicht mit Menschen in Verbindung und reagieren daher nicht mit Flucht. Das ist völlig normal und gilt auch für Wölfe. Hingegen ist es sicherlich unerwünscht, wenn ein Wolf zur Aktivitätszeit des Menschen in Siedlungen unterwegs ist.
Wie empfinden sie die Tendenz, dass Eltern ihre Kinder nicht mehr allein auf die Strasse lassen, weil im Dorf vermehrt ein Wolf unterwegs ist?
Gerke: Dass diese Sorgen und Ängste vorhanden sind, muss man Ernst nehmen. Diese Tatsache macht den schwierigsten Aspekt der Wolfsdiskussion aus. Der Herdenschutz beispielsweise ist eine technische Frage, auf die es auch technische Antworten gibt. Das ist bei Ängsten nicht der Fall.
Es gibt aber aktuell keine Indizien, dass wir eine gefährliche Situation haben. Diese resultieren entweder aus Tollwut oder der Fehlprägung durch Anfütterung der Wölfe.
Dennoch: Bei der ländlichen Bevölkerung wächst die Unsicherheit und das Unverständnis. Muss zuerst etwas Gravierendes passieren, damit der Wolf wieder auf Abstand gebracht werden darf/muss?
Gerke: Nein, das hofft man weder für den Mensch noch für den Wolf. Wenn es zu Zwischenfällen käme würde sich das auch negativ auf die Akzeptanz des Wolfes auswirken.
Es gibt Instrumente, die man zum intervenieren brauchen darf wenn ein Wolf zu nahe an Siedlungen kommt. Die Kantone können Wolfsrudel mit Bewilligung des Bundes regulieren, wenn diese regelmässig zu nahe an Menschen und Siedlungen sind. Und sie können theoretisch – gestützt auf das Polizeirecht – Wölfe, die eine unmittelbare Gefahr darstellen, jederzeit abschiessen.
Das Sie abends oder auch tagsüber in Biberist schon mal einem Wolf begegnet?
Gerke: Nein.
Wie ordnen Sie die Tatsache ein, dass die Bergbevölkerung täglich mit diesen Begegnungen konfrontiert ist?
Gerke: Das ist natürlich unangenehm und löst gewisse Urängste aus, denn wir kennen das Tier nicht mehr.
Der Wolf ist ein Raubtier. Wenn auch selten, es gab Übergriffe auf Menschen–würden Sie garantieren, dass der Wolf für Menschen keine Gefahr darstellt?
Gerke: Grundsätzlich kann man nie für etwas garantieren. Es gab Übergriffe, man muss aber sehen, dass diese nicht von gesunden wildlebenden Wölfen ausgingen.
Kann man von der Schweizer Bergbevölkerung erwarten sich und ihre Umgebung dem Wolf unbegrenzt auszusetzen?
Gerke: Der Mensch hat überall ein Anrecht sicher zu sein und sich frei zu bewegen. Die Bergbevölkerung wird sich mit dem Wolf arrangieren und sein Existenzrecht akzeptieren, aber sie hat ein Recht darauf, dass sie unterstützt wird und die Konflikte tragbar sind.
Es gibt Verhaltensgrenzen die nicht akzeptierbar sind: Wölfe die in Siedlungen Nahrung suchen, keine Scheu vor Menschen haben oder Zäune überspringen.
Sie sind selber Schafhirte und kennen die Herausforderung bei der Arbeit mit Tieren. Auf welcher Art von Weide befinden sich ihre Tiere und wie schützen sie diese?
Gerke: Der Betrieb liegt im Emmental. Einzelne Wölfe werden hin und wieder registriert und der Herdenschutz ist natürlich ein Thema, hauptsächlich mit Zäunen. Der Druck ist aber definitiv geringer als etwa in der Surselva.
Was würden Sie empfinden wenn Ihre Herde von einem Wolf oder gar einem Rudel angegriffen wird?
Gerke: Das wäre eine sehr unschöne Situation. Frust und Hilflosigkeit sind da völlig verständlich.
Von den Landwirten wird verlangt, die Nutztiere entsprechend zu schützen. Durch die Erstellung von hohen Zäunen in Gebieten, wo sonst das Wild durchzukommen hat oder den Einsatz von Herdenschutzhunden auf Wanderwegen, entstehen extreme Widersprüche. Wie begegnen Sie diesen Fragestellungen längerfristig?
Gerke: Es verursacht sicher Zielkonflikte. Vom Herdenschutzhund bekommt der Mensch mehr mit als vom Wolf – damit umzugehen muss unsere Gesellschaft zuerst lernen.
Wichtig ist, den Mehraufwand der Landwirtschaft für den Herdenschutz und das Weidemanagement fair abzugelten.
Es gibt Alpen wo der Herdenschutz nur sehr begrenzt ist beispielweise wenn das Zäunen aus topografischen Gründen unmöglich ist. Wie sehen sie die Zukunft solcher Alpen?
Gerke: Der Wandel der Alpwirtschaft mit der Aufgabe von Alpen hat längst vor der Rückkehr des Wolfes begonnen. Beispielsweise geschah die weitgehende Verwilderung des Tessins im 20. Jahrhundert – dem Jahrhundert, in dem es quasi keine Wölfe gab. Der Wolf ist nur einer von vielen Faktoren, der die Zukunft der Alpwirtschaft bestimmt. Was meines Erachtens fehlt, ist eine strategische Herangehensweise der Kantone. Welche Alpen angesichts der heutigen Gesamtsituation wirklich zukunftsträchtig sind und wo sich entsprechend auch Investitionen lohnen und welche Alpen sich leider nicht erhalten lassen.
Auch auf dem geforderten Niveau bestehender Herdenschutz hat Wölfe nicht abgehalten. Gerade Rudel entwickeln offensichtlich Techniken um diese zu Umgehen, was sagen sie betroffenen Nutztierhaltern in deren Verzweiflung?
Gerke: Wolfsrudel, die trotz Herdenschutz Schäden anrichten, können mit Bewilligung des Bundes reguliert werden. Schadenstiftende Einzelwölfe, die den Herdenschutz nicht respektieren, können die Kantone sogar in Eigenkompetenz abschiessen. Es bestehen also Handlungsmöglichkeiten.
Es gibt bereits jetzt Landwirte welche sich mit dem Gedanken auseinandersetzen mit der Tierhaltung aufzuhören, wenn «ihre Tiere dem Wolf ausgeliefert sind». Ist Ihnen diese Hilflosigkeit, die unter anderem auch aufgrund der Ablehnung des Jagdgesetztes entstand, bewusst?
Gerke: Diese Problematik ist vorhanden und uns bewusst.
Das Jagdgesetz hätte die Probleme der Landwirte nicht gelöst, denn das Wachstum der Wolfspopulation wäre kaum beeinflusst worden. Eine Stärkung des Herdenschutzes war nicht vorgesehen. Diese Kombination hätte dazu geführt, dass selbst bei einer Annahme der Frust in wenigen Jahren genauso gross gewesen wäre.
Vor der Abstimmung sagten sie öffentlich: «Wenn ein Schaf nicht vom Wolf gefressen wird landet es beim Metzger». Ist dieser Vergleich nicht etwas makaber? Zumal ein Nutztier in der Schweiz nach strengsten Tierschutzvorschriften gehalten und verarbeitet wird, welche dem Wolf wohl relativ egal sein dürften?
Gerke: Ich verstehe dieses Argument, finde den Vergleich aber nach wie vor treffend und stehe dazu. Sowohl wir Menschen als auch der Wolf sind Wesen, die sich von anderen Tieren ernähren und dadurch sorgen wir gelegentlich für Tierleid. Davor sind weder wir Menschen, noch der Wolf gefeit.
Überdies regeln die Tierschutzvorschriften, wie wir Menschen uns gegenüber Tieren verhalten müssen, nicht Tiere untereinander.

In Schweden (Bevölkerungsdichte von 22,43 Menschen/km2. Schweiz 215 Menschen/km2. Schweden ca 360 Wölfe/ d.h. max. 36 Tiere Schweiz)wird der Wolfsbestand seit Jahren durch Lizenzjagd reguliert. Nebst dem Erreichen eines günstigen Erhaltungszustandes hat dies auch zur Folge, dass die eigentlich wilden Raubtiere die Nähe des Menschen meiden und ihn nach wie vor als Feind erachten. In Anbetracht des extrem rasanten Wachstums und der Tatsache, dass der Wolf den Menschen zu wenig scheut – wäre das nicht auch bei uns sinnvoll?
Gerke: Wölfe ernähren sich von Schalenwild, dessen Dichte in der Schweiz dreimal höher ist als in Schweden. Und es ist die Schalenwilddichte, welche die natürliche Populationsdichte des Wolfes bestimmt, nicht die Zahl der menschlichen Bewohner. Wenn man den Wolf auf die schwedische Dichte reduzieren will, dann muss man konsequent sein und auch die Schalenwilddichte landesweit um zwei Drittel senken. Alles andere würde das bestehende Ungleichgewicht zwischen Wilddichte und Wald bloss zementieren.
Aber so oder so: Massgebend für die Konflikte ist nicht die Anzahl der Wölfe, sondern deren Verhalten. Ein einzelner Wolf kann mehr Schäden anrichten als ein ganzes Rudel. Wichtiger als Wölfe zu reduzieren, ist sie zu erziehen. Und der Bevölkerung die Mittel für das Zusammenleben zu geben – rechtlich und finanziell.
Der Wolf kostet den Bund rund 3,3 Millionen Franken pro Jahr. Wie setzen sich diese Kosten zusammen und wie rechtfertigen sich diese?
Gerke: Dadurch, dass der Wolf ein bundesrechtlich geschütztes Tier ist, steht der Bund in der Pflicht, die Kosten zu tragen. Darin enthalten sind: Entschädigung der Nutztiere, Monitoring und Genanalysen und der Herdenschutz. Wir sind eines der reichsten Länder der Erde und können uns den Wolf leisten.
Der Stadt-Land Graben und die emotional geführte Debatte weitet sich beim Thema Wolf aus. Gibt es eine Kompromisslösung und wenn ja wie wäre diese zu erreichen?
Gerke: Ja, die gibt es definitiv. Weder wir, noch die Kritiker des Wolfes sind einfach alle Extremisten. Die Wenigsten wollen grenzenlos viele oder gar keine Wölfe. Ich bin überzeugt, dass es einen Mittelweg gibt, den es nun zu finden gilt. Erste Verbesserungen für den Herdenschutz und den Umgang mit schadenstiftenden Wölfen, die den Herdenschutz nicht respektieren, werden wohl schon dieses Jahr auf dem Verordnungsweg umgesetzt.