Trachtenstickerin erschafft Stich für Stich ein Stück Heimat

Gisela Brändle ist Damenschneiderin und Trachtenstickerin. In ihrem Atelier in Mosnang entstehen kunstvolle Toggenburger Trachten. Das Brusttuch der Männertracht ist ihre Königsdisziplin.

Gisela Brändle hat sich der Kunst des Trachtenschneiderns und -stickens verschrieben.
Gisela Brändle hat sich der Kunst des Trachtenschneiderns und -stickens verschrieben.

Konzentriert und mit sicherer Hand führt sie die Nadel mit dem Seidenfaden Stich für Stich der Kante entlang. Der leuchtend rote Wollstoff schimmert unter den geschickten Fingern der Stickerin, während unter ihrem geübten Blick ein einzigartiges Stück heranwächst: ein Brusttuch, das prunkvolle Herzstück der Toggenburger Männertracht.

Zwischen Couture und Heimat

Damenschneiderin oder Handarbeitslehrerin, das waren die zwei Berufe, die für Gisela Brändle infrage kamen. Nach der obligatorischen Schulzeit in Bütschwil hatte sie jedoch genug vom Schulbankdrücken und entschied sich für eine Lehre als Damenschneiderin. Praktisch, denn sie konnte die Ausbildung in einem Atelier in ihrem Wohnort absolvieren. Mit dem noch druckfrischen Fähigkeitszeugnis in der Tasche zog es die junge Toggenburgerin in die Grossstadt, direkt in die renommierte Grieder Boutique an der Zürcher Bahnhofstrasse. «Ich fühlte mich wie ein Landei», sagt sie rückblickend und lacht. «Doch plötzlich kleidete ich die Crème de la Crème mit feinster Couture ein.»

Nach dieser intensiven Zeit folgte der Besuch der Stickfachschule und eine Stelle bei der traditionsreichen St. Galler Stickereifirma Jakob Schläpfer. Mit der Heirat und dem Umzug nach Mosnang machte sie vorerst einen Abstecher in das Büro eines Kleinbetriebs. Aus dem kurzfristig geplanten Einsatz wurden zehn Jahre. Doch danach brauchte die Damenschneiderin wieder Stoff zwischen den Fingern, und so kehrte die Bürofachfrau zu ihrer wahren Berufung zurück.

Trotz vieler Handstiche gehört die Nähmaschine zum Alltag von Gisela Brändle.
Trotz vieler Handstiche gehört die Nähmaschine zum Alltag von Gisela Brändle.

Einzelstücke mit Seele

Heute entstehen im Nähatelier von Gisela Brändle keine Kleidungsstücke von der Stange, sondern Einzelstücke mit Geschichte und Seele. Vor neun Jahren erfüllte sich die Ehefrau und Mutter dreier erwachsener Kinder in ihrem Haus in Mosnang den Traum vom eigenen Atelier. Die gelernte Damenschneiderin hat sich ganz der hohen Kunst des Trachtenschneiderns und -stickens verschrieben.

Gisela Brändle hat alles, was es für eine Tracht braucht.
Gisela Brändle hat alles, was es für eine Tracht braucht.

«Ein Nachbar gab den Anstoss», erzählt die 58-jährige Toggenburgerin. «Er bat mich, ihm eine Toggenburger Männertracht zu machen. Ich liess mich überreden, ohne zu ahnen, wie viel Arbeit wirklich dahintersteckt.» Wie viele der über 700 Schweizer Trachten entsteht auch die Toggenburger Männertracht fast vollständig in Handarbeit. Die braune Wollhose hat einen verdeckten Hosenladen und wird von schwarzen Lederhosenträgern mit Messingornamenten gehalten. Das weisse Baumwollhemd ist mit einem Brustlatz versehen, deren Patte mit Alpaufzugmotiven bestickt ist. Das scharlachrote Brusttuch ist das Herzstück der Toggenburger Männertracht.

Das Brusttuch der Toggenburger Männertracht ist die Königsdisziplin von Gisela Brändle.
Das Brusttuch der Toggenburger Männertracht ist die Königsdisziplin von Gisela Brändle.

Das bis zum Hosenbund reichende Brusttuch ist vorn beidseitig mit je sieben weissen Knopflochstichen und viereckigen Silberknöpfen verziert. Stehkragen, Revers und die Leistentaschen sind mit farbenfroher Stickerei geschmückt. «Die Toggenburger Tracht soll Lebensfreude ausstrahlen», sagt Gisela Brändle. «Das Brusttuch darf kreativ und bunt sein. Das Sticken ist meine Lieblingsarbeit.» Zuerst wählt der Kunde Farben und Motive. Manche wünschen sich ein persönliches Detail auf dem Rücken, etwa eine Alphütte oder einen Berg mit besonderer Bedeutung. «Für die Randstickerei mache ich bis zu zwölf Reihen mit verschiedenen Stichen und Farben. Bevor ich beginne, zeichne ich das Muster sorgfältig auf. Wenn ich dann die erste Reihe sticke, sehe ich, wie das Brusttuch mit jedem Stich wächst», schwärmt die Trachtenstickerin.

Jedes Stück ein Unikat

Auch wenn im Atelier von Gisela Brändle hin und wieder massgeschneiderte Einzelstücke für den Alltag und besondere Anlässe entstehen oder bestehende Kleidungsstücke angepasst werden, das Herzstück ihrer Arbeit sind die Trachten. In den vergangenen neun Jahren sind rund 35 Brusttücher entstanden, von A bis Z Einzelstücke, gefertigt mit viel Liebe und Geschick. Keines ist gleich wie das andere. Zwischen 70 und 100 Stunden steckt die Schneiderin in jedes einzelne. Doch es bleibt nicht beim Brusttuch. Auch komplette Toggenburger Männer- und Frauentrachten entstehen in ihrer Werkstatt: Vom sorgfältigen Massnehmen, dem Zeichnen des Schnittmusters, dem Zuschneiden und Nähen, mit mehreren Anproben dazwischen, bis hin zum Ausschmücken. «Wichtig ist, dass jede Tracht perfekt sitzt und zur Person passt», sagt sie. Besonders gefreut hat sie sich über den Auftrag, zwei Ehrendamen für das Eidgenössische Schwing- und Älplerfest in Mollis mit der Kaltbrunner Festtagstracht auszustatten.

In einem Ordner sind alle Stickarbeiten von Gisela Brändle festgehalten.
In einem Ordner sind alle Stickarbeiten von Gisela Brändle festgehalten.

In ihrem Atelier findet sich alles, was es für die Ausstattung des Brauchtums braucht: beste Stoffe aus Baumwolle, Leinen oder Seide, bestickte Tücher, Knöpfe, Schnallen, Broschen und Bänder. Auch Socken, Stulpen und Taschen gehören dazu. Was nicht an Lager ist, beschafft sie auf Wunsch. Ihr Fachwissen teilt sie gern mit Hobbyschneiderinnen, sei es in Kursen oder bei einem persönlichen Besuch im Atelier. «Ich gebe mein Wissen gerne weiter. Es wäre doch schade, wenn diese Handwerkskunst verloren geht.»

Heimat tragen

Ihre Kundschaft ist vielfältig. Bauern und Landfrauen lassen sich für Viehschauen oder Alpfahrten einkleiden. Schwinger senken in traditioneller Kleidung ihr Haupt für den Lorbeerkranz, und auch Mitglieder von Volkstanz- und Trachtenvereinen, Jodlerchören, volkstümliche Musikgruppen sowie Privatpersonen finden den Weg in das Nähatelier von Gisela Brändle mit dem Wunsch nach einer Tracht, die passt, berührt und bleibt. «Heute tragen die Leute Trachten nicht nur an Jodler- oder Trachtenfesten», weiss die Fachfrau. «Auch bei Hochzeiten, Taufen oder kirchlichen Feiern sind sie wieder gefragt. In vielen Volkstanz- oder Musikgruppen gehören sie ganz selbstverständlich dazu, auch auf grossen Bühnen im In- und Ausland.» Ein lebendiges Symbol für Brauchtum und regionale Identität pflegen die Toggenburger ebenso wie die Appenzeller, wenn sie an Viehschauen, Alpfahrten und Jodelauftritten ihre stattliche Sennentracht tragen. «Eine Tracht ist weit mehr als Kleidung», betont sie. «Sie kleidet jede Frau und jeden Mann. Sie zeigt, wo man hingehört. Sie ist ein wertvolles Erbe für die nächste Generation.»

Eine Toggenburger Frauentracht nimmt auf der Schneiderpuppe Gestalt an.
Eine Toggenburger Frauentracht nimmt auf der Schneiderpuppe Gestalt an.

 

Das Gewand der Heimat

Die Toggenburger Trachten gehören zu den ältesten überlieferten Gewandformen der Schweiz. Sie reichen bis ins 18. Jahrhundert zurück und wurden ursprünglich als Werktags- und Festtagskleidung getragen. Mit der Zeit gerieten sie fast in Vergessenheit. Bis zur Gründung der Kantonalen Trachtenvereinigung St. Gallen im Jahr 1927. Eine Schlüsselfigur war der Historiker Heinrich Edelmann, der als erster kantonaler Trachtenobmann wirkte. Gemeinsam mit der Künstlerin und Volkskundlerin Hedwig Scherrer trug er zur Wiederbelebung der St. Galler Trachten bei. Sie forschten in Archiven, befragten Zeitzeugen und entwarfen neue Modelle auf Grundlage historischer Vorlagen. Heute sind im Kanton St. Gallen rund 50 verschiedene Frauen- und Männertrachten dokumentiert. Die Toggenburger Tracht ist dabei besonders lebendig geblieben, getragen an Jodlerfesten, Alpaufzügen oder kirchlichen Anlässen und mit viel Hingabe gefertigt von Kunsthandwerkerinnen wie Gisela Brändle.

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