Demenz kann jeden treffen – auch junge Menschen
Demenz wird oft mit älteren Menschen in Verbindung gebracht, aber auch jüngere können betroffen sein. Der «St. Galler Bauer» hat sich mit Heidi Schänzle-Geiger, Neuropsychologin sowie Fachpsychologin für Psychotherapie unterhalten.
«Viele Menschen haben Angst, an Demenz zu erkranken. Viele haben aber auch Angst, nach der Diagnose nicht mehr ernst genommen oder als weniger fähig angesehen zu werden», sagt Heidi Schänzle- Geiger. Demenz tritt nicht nur im Alter auf. Auch jüngere Menschen unter 65-jährig können an den typischen Erinnerungslücken leiden. Demenz sei nach wie vor ein Tabuthema, was es für Betroffene und ihre Familien besonders schwierig mache, offen darüber zu sprechen oder frühzeitig Hilfe zu suchen. Die Diagnose könne für alle Beteiligten eine enorme emotionale Belastung darstellen. Es bringe jedoch nichts, die Erkrankung zu vertuschen. «Um Missverständnisse auszuräumen, empfiehlt es sich, das eigene Umfeld über die Diagnose zu informieren», sagt sie. Heidi Schänzle-Geiger ist Neuropsychologin sowie Fachpsychologin für Psychotherapie und hat viele Jahre bei Alzheimer Thurgau mitgearbeitet. Der «St. Galler Bauer» hat die Fachfrau an ihrem Arbeitsplatz am Kantonsspital Münsterlingen besucht.
200 komplexe Erkrankungen
Inzwischen werde Demenz immer häufiger als neurokognitive Störung bezeichnet. Dieser neue Begriff solle dazu beitragen, Vorurteile zu verringern, die sowohl mit dem Wort Demenz als auch mit den damit verbundenen Erkrankungen verbunden sind, erklärt die Neuropsychologin. Demenz ist der Oberbegriff für rund 200 verschiedene komplexe Erkrankungen, welche die Funktion des Gehirns beeinträchtigen. Demenzerkrankungen, einschliesslich Alzheimer, können derzeit nicht geheilt werden. Alzheimer sei die häufigste Form der Demenz und mache etwa 70 Prozent der Fälle aus. Auch wenn es keine Heilung gibt, gebe es Ansätze, die Symptome zu lindern und die kognitiven Fähigkeiten zu stabilisieren, um dadurch die Lebensqualität zu erhöhen. Eine frühzeitige Diagnose sei entscheidend für die individuelle Behandlung und Unterstützung der betroffenen Person.
Von Demenz im jüngeren Lebensalter spricht man, wenn erste Symptome bereits vor dem 65. Lebensjahr auftreten. In der Schweiz leben über 7800 Menschen zwischen 30 und 64 Jahren mit einer Demenz (Stand 2024). Treten die Symptome vor dem Rentenalter auf, denken Ärzte nicht sofort an eine Demenz, und es kann zu Fehldiagnosen kommen. Häufig würden Symptome wie Vergesslichkeit oder auffällige Wesensveränderungen zunächst auf Depression, Burn-out, Stress oder Beziehungsprobleme zurückgeführt. Es kann tatsächlich sein, dass ein anderer Grund dahintersteckt wie beispielsweise Blutarmut, ein Vitamin-B12-Mangel, Stress oder eine Depression. Wichtig sei, psychische Beeinträchtigungen immer ernst zu nehmen und ärztlich abklären zu lassen.

Frontotemporale Demenz
Jung-Betroffene und ihre Angehörigen haben andere Bedürfnisse als ältere Menschen mit der gleichen Diagnose. Meistens sind sie im Berufsleben, tragen zum Lebensunterhalt bei und kümmern sich um die im gleichen Haushalt lebenden Kinder. Diese Doppelbelastung stellt eine besondere Herausforderung dar. Die betroffenen Personen haben daher möglicherweise Schwierigkeiten, ihre Leistungsfähigkeit in der Arbeit und ihre familiären Aufgaben aufrechtzuerhalten. Gehäuft handle es sich bei der Erkrankung im jüngeren Alter um die Frontotemporale Demenz, bei der Nervenzellen vor allem im Stirn- und Schläfenbereich (frontaler und temporaler Lappen) des Gehirns absterben. Von hier aus werden unter anderem Emotionen und Sozialverhalten gesteuert. In äusserst seltenen Fällen gebe es sogar neurokognitive Beeinträchtigungen bei Kindern und Jugendlichen. Die ersten Anzeichen bei jüngeren Menschen, die an Demenz erkrankt sind, könnten Verhaltens- und Persönlichkeitsveränderungen oder Rückzug aus sozialen Aktivitäten sein. Wichtig sei der frühe Miteinbezug des Arbeitgebers, damit Rechtliches und Finanzielles geregelt werden können. Denn Demenzbetroffene können Leistungen der Invalidenversicherung (IV) erhalten, wenn ihre Erkrankung zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit führt. Um sicherzustellen, dass der eigene Wille auch im Falle fehlender Urteilsfähigkeit gewahrt bleibt, sind ein Vorsorgeauftrag, eine Patientenverfügung sowie eine Bankvollmacht sinnvolle rechtliche Instrumente.
Von grosser Bedeutung sei, dass Angehörige lernen, sich regelmässig Pausen zu gönnen und Zeit für sich selbst zu nehmen. «Psychologische Beratung und Selbsthilfegruppen bieten wichtige Unterstützung in schwierigen Lebenssituationen. Praktische Hilfsangebote wie die Unterstützung durch Pflegekräfte sind ebenfalls von grosser Bedeutung.»
Mehrere Risikofaktoren
Demenz kann jeden treffen. Doch bis heute bleibt unklar, warum einige Menschen erkranken und andere nicht. Sicher ist jedoch, dass es Risikofaktoren gibt, welche die Wahrscheinlichkeit erhöhen, an Demenz zu erkranken. Nebst dem zunehmenden Alter gelten auch starkes Übergewicht, ein hoher Cholesterinspiegel, Diabetes und ungesunde Lebensgewohnheiten wie Rauchen oder übermässiger Alkoholkonsum als bekannte Risikofaktoren. Die erbliche Form einer Demenzerkrankung ist selten, aber möglich. «Man weiss, dass abnorme Eiweissablagerungen den Stoffwechsel der Nervenzellen im Gehirn stören, was zur Folge hat, dass fortschreitend Nervenzellen im Gehirn absterben. Der genaue Mechanismus, warum diese Ablagerungen entstehen und letztlich das Absterben der Zellen verursachen, ist jedoch noch nicht geklärt», erzählt Heidi Schänzle-Geiger.
Vergesslichkeit gleich Demenz?
Ab wann ist Vergesslichkeit nicht mehr normal? Hellhörig sollte man werden, wenn die verminderte Gedächtnisleistung länger als ein halbes Jahr anhält oder wenn Familie und Freunde darauf hinweisen. In diesem Fall sei es ratsam, die Vergesslichkeit ärztlich abklären zu lassen. «Deuten die Testergebnisse auf eine Demenzerkrankung hin, überweist der Hausarzt den Patienten für eine genaue Abklärung meist an einen Spezialisten oder in eine Memory Clinic», erklärt die Neuropsychologin. Doch nicht jede Vergesslichkeit ist mit einer beginnenden Demenz gleichzusetzen. Solange keine weiteren Einschränkungen wie Schwierigkeiten bei der Orientierung, Probleme mit dem täglichen Leben oder Veränderungen in der Persönlichkeit hinzukommen, sei es meist kein Grund zur Besorgnis.
Die Zunahme der Demenzfälle lasse sich nicht nur auf die immer älter werdende Gesellschaft zurückführen, sondern auch auf die Fortschritte in der medizinischen Diagnostik. Früher wurden neurokognitive Störungen oft als Altersverwirrtheit oder als Folgen von Arterienverkalkung abgetan. Es wurde angenommen, dass solche Veränderungen einfach zum Älterwerden gehören. Erst Anfang der 1970er-Jahre begannen Wissenschaftler, die biologischen Prozesse hinter dem Altern und den kognitiven Veränderungen genauer zu erforschen. Heidi Schänzle-Geiger empfiehlt: «Aktiv bleiben gegen das Vergessen, ganz nach dem Motto: Use it or lose it (benutze es oder verliere es).» Aktive Beschäftigung, sei es durch körperliche Bewegung oder geistige Herausforderungen, habe einen enorm positiven Einfluss auf die geistige Gesundheit. Es sei wichtig, aktiv zu bleiben und Neues zu lernen. Das Gehirn könne in jedem Alter und zu jedem Zeitpunkt des Lebens trainiert werden. Eine gute Balance zwischen Arbeit und Freizeit helfe nicht nur, den Geist fit zu halten, sondern fördere auch das allgemeine Wohlbefinden.
